In einer Kolumne, die am 21. Februar 2022 in der Schweizer Tageszeitung Le Temps veröffentlicht wurde, reflektiert der geschäftsführende Gesellschafter der Mirabaud-Gruppe über den Zustand von Genfs öffentlichen Finanzen und warnt vor höheren Steuern auf Dividendenausschüttungen.
Die wichtigsten Erkenntnisse aus dem letzten S&P-Bericht
Die Rating-Agentur Standard & Poor’s (S&P) stufte den Kanton Genf in ihrem Ende 2021 veröffentlichten Bericht mit «AA-/Stable/–» ein. Die negativen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das BIP der Schweiz waren im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern gering. S&P erwartet einen starken Aufschwung in den Jahren 2021 und 2022, während sich die Auswirkungen auf Genfs Finanzen in naher Zukunft in Grenzen halten dürften. Das BIP des Kantons Genf wächst seit 2017 schneller als der nationale Durchschnitt – dank Branchen mit hoher Wertschöpfung wie Chemie, der Uhrenindustrie und dem Finanzsektor. Yves Mirabaud betont jedoch, dass diese relativ günstigen Aussichten nicht über gewisse Verkrustungen und Ungleichgewichte hinwegtäuschen dürfen, die zur Situation in Genf gehören.
Starke Einnahmen, hohe Ausgaben und Rekordschulden
Die dynamische und COVID-resistente Genfer Wirtschaft beschert dem Schweizer Kanton hohe Steuereinnahmen – sowohl von Unternehmen als auch von Privatpersonen. Das gesamte Genfer Steueraufkommen dürfte im Jahr 2022 rund 7.3 Milliarden Franken erreichen. Für eine Bevölkerung von knapp 500’000 Einwohnern ist das beachtlich. Dieser soliden Steuerbasis stehen jedoch hohe öffentliche Ausgaben des Kantons gegenüber. Der S&P-Bericht stellt fest, dass es schwierig ist, Strukturreformen durchzuführen, um die Kosten für künftige Ausgaben zu senken. Yves Mirabaud erwähnt auch eine Studie des Schweizer Instituts BAK Economics AG, wonach die Nettoausgaben pro Kopf in Genf 89 % über dem Durchschnitt der anderen 25 Kantone liegen. Ein weiterer Grund zur Sorge ist die hohe kantonale Verschuldung, die durch die Rekapitalisierung der Caisse de prévoyance de l’Etat de Genève (CPEG), einer öffentlichen Pensionskasse, aufgebläht wurde. Mit voraussichtlich 17.6 Milliarden Schweizer Franken bis Ende 2022 (oder 35’000 CHF pro Einwohner) wird die Verschuldung von Genf so hoch sein, wie es noch nie zuvor ein Schweizer Kanton erreicht hat.
Ein fragiles Gleichgewicht
Obwohl der Kanton Genf bisher auf seine hohen Steuereinnahmen zählen konnte, um seine hohen Ausgaben zu finanzieren, zeigt Yves Mirabaud, wie fragil dieses Gleichgewicht tatsächlich ist. Der grösste Teil des gesamten Steueraufkommens stammt nämlich von nur wenigen Spitzenzahlern: Auf 0.5 % der Unternehmen entfallen 71 % des Körperschaftssteueraufkommens, und 1.9 % der Unternehmen sind für 90 % des Kapitalsteueraufkommens verantwortlich. Ähnliche Verhältnisse finden sich bei natürlichen Personen. Eine solche Pyramidenstruktur könnte leicht gefährdet werden, wenn höhere Steuersätze einige dieser Spitzenzahler dazu bringen, den Kanton zu verlassen. Aus diesem Grund plädiert Yves Mirabaud für die Beibehaltung der attraktiven Steuerregelung, die durch die «RFFA»-Unternehmenssteuerreform (Réforme fiscale et financement de l’AVS) geschaffen wurde. In diesem Zusammenhang bleibt es interessant, wie der Kanton Genf das OECD-Ziel einer Mindestbesteuerung von 15 % für multinationale Unternehmen mit einem Umsatz von über 750 Millionen Franken umsetzen wird.
Die Bedrohung durch die Initiative 179
Schliesslich ruft Yves Mirabaud die Genferinnen und Genfer auf, die Initiative 179 abzulehnen mit dem Titel «Contre le virus des inégalités… Résistons! Supprimons les privilèges fiscaux des gros actionnaires» (auf Deutsch: «Gegen das Virus der Ungleichheit… Lasst uns Widerstand leisten! Lasst uns das Steuerprivileg von Grossaktionären abschaffen»). Diese Initiative zielt darauf ab, eine integrale Doppelbesteuerung von Dividendenausschüttungen im Kanton Genf einzuführen und damit die Möglichkeit der Steuervergünstigung, die den Aktionären unter bestimmten Bedingungen gewährt wird, zu beseitigen. Yves Mirabaud argumentiert, dass eine solche Reform einen starken Wettbewerbsnachteil für den Kanton Genf mit sich bringen würde, da alle anderen Kantone derzeit eine ähnliche Regelung für Steuererleichterungen haben.
Yves Mirabaud ist seit 2012 geschäftsführender Gesellschafter der Mirabaud-Gruppe. Nach seinem Abschluss am Institut des Hautes Études Internationales de Genève arbeitete er bei verschiedenen Finanzinstituten, bevor er 1993 zu Mirabaud wechselte. Von 2010 bis 2011 war er zudem Vorsitzender des Groupement des Banquiers Privés Genevois und von 2015 bis 2021 Präsident der Vereinigung Schweizerischer Privatbanken. Die Mirabaud-Gruppe mit Sitz in Genf ist in zehn Ländern auf vier Kontinenten tätig und beschäftigt über 700 Mitarbeiter.